Reißt die Pyramiden nieder! Verantwortung macht glücklich!
Verantwortung macht glücklich und entfesselt Kräfte. Also raus mit ihr! Dahin, wohin sie hingehört. Einer der ungewollten Vordenker Schwedens ist Jan Carlzon, kurz Janne. Durch ihn inspiriert lest ihr hier, wie das gelingt.
Take aways:
Mittagessen mit meinen neuen „Kollegen“ des Co-Working Places bei mir um die Ecke in Stockholm. Und was machst du so?
„Ich versuche die typisch skandinavische Art der Arbeit nach Deutschland zu bringen. Ähm – die Deutschen glücklicher zu machen“, schiebe ich zwinkernd hinterher. Nach langer Diskussion über die typische schwedische Art zu arbeiten, wundern sich zwei nette Schweden, wo die ihren Ursprung hat.
„Jan Carlzon, oder? Der ehemalige Vorstand von SAS …“, so rätselt Martin, der Fotograf.
„Jahå“, stimmt Helen zu, die Journalistin. „Der hat mit seinem Buch ganz Schweden bewegt.“ Tatsächlich so erfahre ich später, hat sogar Bill Clinton es zweimal gelesen.
Wer ist Jan Carlzon?
Er hat die Fluglinie SAS vom drohenden Konkurs innerhalb weniger Jahre zur damals besten Fluglinie der Welt transformiert. Ich google gleich die deutsche Ausgabe dieses vielversprechenden Buches. Und bin tief enttäuscht. Der schwedische Titel „Riva Pyramiderna!“ („Reißt die Pyramiden nieder!“) strotzt vor Tatendrang und Kraft. Als deutschen Titel wählte der Campus Verlag jedoch „Alles für den Kunden: Jan Carlzon revolutioniert ein Unternehmen“. Gähn! Kurze Zeit später liegt das neu aufgelegte Buch zur Abholung bereit. Auf Schwedisch.
Aufgeklappt und losgelesen, auf Seite eins. Das steht nur dies:
„Das Wichtigste für einen Menschen ist, zu wissen und zu fühlen, dass er gebraucht wird.
Jeder Mensch möchte als Individuum behandelt werden.
Wenn eine Person frei ist, Verantwortung zu übernehmen, werden Kräfte freigesetzt, die sich sonst nie zeigen würden.
Eine Person, die keine Informationen hat, kann keine Verantwortung übernehmen. Wer hingegen über Informationen verfügt, kommt nicht umhin, Verantwortung zu übernehmen.“
Es ist an der Zeit, die Welt auf den Kopf zu stellen!
Als dieses Buch erschien, war 13 Jahre alt und ging in die 7c in Heidelberg. In Deutschland tobt zu dieser Zeit der größte Arbeitskampf seit dem Bestehen der Bundesrepublik. Die Metallindustrie wird sieben, die Druckindustrie 13 Wochen bestreikt. Von „Psychoterror“ sprechen Chefredakteure und Verleger in der Druckindustrie. Die Metallindustrie verliert 10 Milliarden Deutsche Mark.
Es ist 1984! Streiken tun wir in Deutschland auch heute noch.
Wer Verantwortung hat, braucht nicht zu kämpfen.
„Unternehmen müssen aus den Entwicklungen in der Gesellschaft ihre Konsequenzen ziehen“, so forderte Jan als junger CEO der innerschwedischen Fluggesellschaft Linjeflyg. Immer mehr Menschen hätten Zugang zu relevanten Informationen und würden deshalb nach der Freiheit dürsten, Verantwortung zu übernehmen. Also muss man sie lassen. Vor allem dort, wo sie sich einen Großteil ihres Lebens aufhalten: an Ihrem Arbeitsplatz. Er transformierte nicht nur Linjeflyg, sondern später auch die Scandinavian Airline, kurz SAS. Das war in den 1970/80ger Jahren.
Heute schreiben wir das Jahr 2021. Wir sind seit 50 Jahren überfällig. Verantwortung macht glücklich.
Linjeflyg operiert heute unter dem Namen „BRA flyg“ und startet und landet vom Stadtflughafen in Bromma bei mir um die Ecke. Ohne Vorwissen habe ich Jans Erbe bei der Recherche zu meinem Buch „Acht Stunden mehr Glück“ in vielen Interviews mit der heutigen Belegschaft wieder gefunden. BRA flyg, wurde während meine Recherche geleitet von Christian, der zuvor 2010-2015 in den Vorstand von TUI Deutschland berufen wurde, um – ja, was wohl – die Pyramide nieder zu reißen. Aber hej, meine Damen und Herren, das können wir doch wohl selbst!
Was treibt Menschen an?
In Gesprächen mit Kunden höre ich oft den Einwand: Viele Menschen wollen keine Verantwortung übernehmen, das macht die nicht glücklich. Die sind froh, wenn jemand anderes entscheidet. „Haben wir übrigens probiert“, Frau van den Boom, „hat nicht funktioniert“.
Gegendarstellung:
„Jeder Mensch hat ein starkes und seriöses Bedürfnis, Verantwortung übernehmen zu wollen.“
Jan Carlzon
Wenn nicht, dann haben wir es ihm/ihr wahrscheinlich erfolgreich abgewöhnt. Während der Erziehung, der Schule, am Arbeitsplatz. Doch jeder, der einmal Kind war, weiß, dass die großartigsten Momente nicht die waren, als Mama (in Schweden: Papa) uns den Schnürsenkel gebunden hat. Es waren die, als wir es nach 60 Mal probieren endlich selbst geschafft hatten. Und genauso frustrierend war es, wenn Mama uns diese Verantwortung in der morgendlichen Eile wieder abgeknüpft hat. „Komm, ich mach das eben“. Menschen wollen wachsen und selbst Verantwortung übernehmen PUNKT. Tun sie es nicht, dann ist es an uns als Vertreter der Gesellschaft, ihren Gestaltungsdrang wieder zu entfesseln.
Wie Jan bei seiner Antrittsrede bei Linjeflyg in den 70er Jahren: „Dieser Firma geht es nicht sehr gut. Wir machen Verluste und es gibt viele Probleme. (…) Ich habe beschlossen, zu versuchen, einen guten Job zu machen – aber ich schaffe es nicht alleine. Die einzige Chance, die wir haben, ist, dass ihr euch einsetzt und Verantwortung übernehmt, dass ihr eure Erfahrungen und Einsichten mit mir teilt. Ich habe wahrscheinlich auch ein bisschen Kompetenz im Gepäck, das wir auch gebrauchen können, aber in erster Linie müsst ihr mir helfen, nicht umgekehrt.“
„Die sind ja tatsächlich nicht doof, die können ja selbst denken!“, donnere ich dementsprechend gerne von der Bühne. Und bin jedes Mal erstaunt, wenn ich danach gefragt werde, ob das auch für die Mitarbeiter in Berufen gilt, die weniger kreativ sind. Blue Collar, Fließband und so …
Wann übernehmen Menschen Verantwortung für sich und andere?
Wenn sie verstehen! Denn was wir verstehen, kann uns schlecht egal ein. Es geht uns an.
Fünf Führungsimpulse zu Verantwortung und Glück – inspiriert durch Jan Carlzon und meine eigenen Erfahrungen im Norden:
1) Schiebt Verantwortung ab!
Dahin, wo sie hingehört. Als ob ein Produktionsmitarbeiter sein Hirn täglich bei der Pforte abgibt oder eine Servicekraft am Bahnsteig. Wie die, die mir vor zwei Jahren ein Bier am Counter des Bordrestaurants der Deutschen Bahn zum Mitnehmen verkauft hat. Ach, dachte ich, ich trink das Pils doch lieber hier am Tisch und mache Anstalten, mich zu setzen. Die Servicekraft kommt nervös auf mich zu. Ich dürfe mich hier nicht hinsetzen, wenn ich eine Flasche gekauft hätte. Sie fände die Regel auch doof, bekäme allerdings großen Ärger, wenn ich mich jetzt – in das übrigens völlig leere Restaurant – an den Tisch setzen würde.
Wie hätte sie wohl reagiert, wenn sie das Mandat gehabt hätte, so zu handeln, als wäre dies ihr eigenes Restaurant? Hätte diese Verantwortung sie glücklich gemacht?
Menschen müssen in der Lage sein, in jeder Situation selbstständig Entscheidungen zu treffen. Weg also mit Handbüchern und Regelwerken. Sie schaden mehr, als sie nutzen, denn sie entziehen Menschen Energie. Dem kann Jan nur zustimmen, denn: „Je mehr Instruktionen es gibt, desto weniger Raum ist übrig für eigene Initiativen. Instruktionen begrenzen die Handlungsfreiheit und ersticken Kreativität.“ Deshalb verbringen nicht nur Janne sondern auch sein Nachfolger Christian 50 Jahre später, minimal 50 Prozent ihrer Zeit direkt unter den Leuten am Hangar. Zum Ideensammeln:
„Vergiss nicht, dass deine besten Gedanken von anderen stammen.“
Oskar Wilde
Weg mit der Verantwortung! Das muss man sich erst mal trauen. Doch es kommt noch doller, denn Jans Führungsspitze befand, man müsse sich nicht nur nicht in alles einmischen. Man muss sich auch selbst davor schützen, sich in alles einmischen wollen zu können. „Wir haben alles Reporting nach oben, das uns in die Versuchung gebracht hätte, uns mit Details und Mikromanagement zu beschäftigen, abgeschafft. Denn die Entscheidungen sollen weitestgehend draußen getroffen werden.“, so Janne. Nur die Berichte durften auferstehen, die das Management nach einiger Zeit ehrlich und aus tiefem Herzen vermisste.
Und so lautet das Erbe von Jan 50 Jahre später aus dem Mund von Maria, die ich im Sicherheitsbereich des lokalen Flughafens in Halmstad treffe: „Wenn etwas passiert, dann denkst du oft, da kann ich nichts machen. Aber BRA flyg möchte, dass wir etwas tun.« Also kauft das Flughafenpersonal im Supermarkt schnell kleine Snacks und frische Getränke für die Gäste, wenn der Flug ausfällt. So erklärt mir Maria am Schalter des Miniflughafens: „Wir halten uns nicht zu 100 Prozent an die Vorschriften. Manchmal kann man ein wenig mehr tun.“
2) Zündet Leuchtfeuer an!
Die so hell sind, dass sie bis in den letzten Winkel scheinen. Egal, ob Montageabteilung, Krankenhaus-Labor oder die Schublade der Sachbearbeiterin in Hinterwaldbächle. Peder, Forbes Game-Changer 2016 und CEO von Novozymes aus Dänemark, erklärt es so: „Du musst einfach nur dafür sorgen, dass du diese Kräfte freisetzt. Dass du Menschen leidenschaftlich sein lässt, und ihre Leidenschaft, Dinge zu verbessern, anfeuerst! Und dann musst du nur noch dafür sorgen, dass sie alle grob in dieselbe Richtung laufen.“ Also so ungefähr. Unreguliert und ungebremst.
Sieh unsere Visionen! Hier ist unser Ziel! Das unsere Strategie! (Damals noch von der Führung, heute mit viel MitarbeiterInnen-Herzblut ausgearbeitet.) Und dies ist, was wir von euch erwarten! Wie ihr es hinkommt, ist eure Sache. Eure Freiheit! Unser Vertrauen. Zum Glück!
So war es schon 1980. Alle Mitarbeiter bekamen in einem legendären roten Heft, das kleine Rote („lilla röda“ auf Schwedisch) in einfacher Form dieselben Informationen, die der Vorstand hatte, damit sie handeln konnten. „Das gesamte Bild, die Zielsetzung und die Strategie. Das gesamte Wissen!“, so Janne nachdrücklich. Menschen sind bereit, sich ernsthaft einzusetzen, wenn man sie ernst nimmt.
Das gilt auch heute noch beim schwedischen, börsennotierten Bauunternehmen, erfahre ich von Veronika, der weltweiten Personalleiterin bei Skanska AB: „Es gibt sehr wenig, was du nicht teilen kannst. Es ist wichtig, dass alle Bescheid wissen können, denn nur so können unsere Menschen motivieren.“ Teilt also alles, außer das, was wirklich top-secret ist. Wissen zu teilen und Menschen mit sensiblen Informationen zu versorgen, ist ein Zeichen des Respekts und des Vertrauens. Vorausgesetzt ihr habt es.
Aus Glücksperspektive ist es ganz einfach: Menschen möchten bedeutungsvoll sein für sich und andere und nicht nur ein unbedeutendes kleines Rad im Getriebe. Nur wer das ganze Bild versteht, begreift seine eigene Rolle und kann ethisch und klug für die Gemeinschaft handeln. Und deshalb, nochmal, Verantwortung macht was? Glücklich!
Und stimmt, – das müssen wir vielleicht erst wieder erlernen. Doch es lohnt sich sicher:
Denn das Resultat ist mächtig, wie mir Simon, Wertehüter des Lastwagenherstellers Scania, während meiner Buchrecherche erklärte: „Du kannst hier alle Maschinenbediener zur Seite nehmen, und sie können dir das große Ganze erklären. Sie können dir schildern, welche Rolle sie im Gesamtkonstrukt einnehmen und dir zeigen, dass sie nicht nur Schrauben verschrauben. Und das ist das Interessante, denn faktisch schrauben sie tatsächlich nur Schrauben. Den ganzen Tag lang. Aber sie empfinden es anders und deshalb stellen sie sich konstant die Frage: Wie kann ich das Verschrauben verbessern? Was kann ich zum Gesamtbild beitragen?“
„Nur die, die keine Verantwortung bekommen haben, können verantwortungslos handeln.“
Jan Carlzon
Lina und Johan von BRA flyg, während meines Interviews.
Ich sitze am Gate 18 am Flughafen Arlanda und warte auf den Flug, der mich zu meinem Kunden nach Deutschland bringen wird. Jannes Buch habe ich inzwischen ausgelesen. Versonnen blicke ich auf die Landebahn. Glück und Verantwortung, kein selbstverständlicher Zusammenhang, denke ich, während ein großes Flugzeug von Finnair sich durch den Regen schiebt. Nein, es wird gezogen. Von einem Mini-Zugfahrzeug.
Lächelnd denke ich an eine weitere Geschichte, die Janne in seinem Buch beschreibt:
Einige Zeit, nachdem sein „Lilla Röda“ verteilt worden war, flog mit einem der SAS Flugzeuge. Das Ziel von SAS lautete damals: Wir fliegen pünktlich. Als sich der magische Abflugs-Zeitpunkt nähert, leuchtet eines der Lichter im Cockpit immer noch gelb auf. Der Pilot bittet die Crew, noch einmal die Türen zu kontrollieren. Da geht ein leichter Ruck durch das Flugzeug. Der Kapitän lächelt Janne verschmitzt an, weist nach unten und erklärt: „Das war der Typ im Zugfahrzeug, der mich freundlich daran erinnert, dass es Zeit ist zu starten.“ Es war gelungen, dass nicht mehr nur der Kapitän, sondern alle zusammen die Verantwortung für die Pünktlichkeit übernommen hatten.
Wenn wir die Pyramiden niederreißen, und generös Handlungsfreiheit verteilen, fühlen wir uns alle zusammen verantwortlich für das Ergebnis