Lifelong learning: Zeig der Tradition den Mittelfinger
„Zeige der Tradition den Mittelfinger“, so die provokative Anzeige auf der Titel- und Rückseite der schwedischen Boulevardzeitung Aftonbladet am Wochenende. Sie stammt von Europas wertvollsten privatem Finanztechnologie-Unternehmen Klarna. Es ruft die Schweden dazu auf, Regeln zu brechen, denn wenn Regeln nicht hinterfragt würden, blieben sie unverändert. Also rebellieren sie.
Wie gewöhnlich. Weil sie lebenslang lernen wollen. Und das schon seit ca. 1880.
Persönlichkeits- und Gesellschaftsbildung anstelle deutscher Allgemeinbildung
So lautet das Geheimnis des Erfolges der Nordländer. Denn manch einer fragt sich, wie die ehemaligen Armenhäuser Europas zu den innovativsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern Europas aufsteigen konnten. Das Buch von Lene Rachel Andersen und Tomas Björkman „The Nordic Secret“ gibt die Antwort darauf: Bildung! Nonkonformistische, individuelle Persönlichkeitsbildung.
Freiheit im Geist bildet Freiheit im Geist
Bereits Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts erkannten die nordischen Länder, dass sie, wenn ihre Länder gedeihen sollten, „Folkbildning“, Volksbildung, für die am wenigsten Gebildeten unter ihnen schaffen mussten.
Und zwar eine Bildung, die weiter reicht als nur das Vergrößern des Intellekts und des Geistes. Bildung wurde als Mittel gesehen, Menschen zu vermitteln, dass sie als eigenständige Person auch tief in einer Gemeinschaft verwurzelt sind. Etwas poetisch ausgedrückt: Menschen sollten lieben zu lernen und lernen zu lieben. Volksbildung sollte allen die Gelegenheit geben, zusammen mit anderen ihr Wissen zu vergrößern, sich persönlich zu entwickeln und an der Gesellschaft teil zu haben.
Freiheitliche Bildung war mal deutsch
Und diesen Gedanken brachten unsere deutschen Dichter und Denker in den Norden, so ergab die Forschung von Lene und Tomas. Leider starben all diese deutschen Größen auch ziemlich schnell hintereinander: Herder starb 1803, Schiller 1805, Fichte 1814, Pestalozzi 1827, Hegel 1831, Goethe 1832, um nur ein paar zu nennen. Und dann? Ja, dann kam 1862 Otto von Bismarck und einte alle kleinen Teilstaaten zu einer preußischen Konföderation. Eine deutsche Identität musste her. Bildung schien geeignet. Die Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung wurde gegründet und hielt Vorlesungen, die leider völlig am Leben und Denken der Arbeiter vorbei diktierten. Keine Diskussionen und Unterbrechung während der Lesungen waren erlaubt, Fragen schon gar nicht. Bildung führte zu Konformität, sie wurde zu Allgemeinbildung. Und wird in Deutschland in dieser Form auch gerne heute noch romantisiert. Tradition ist schließlich Tradition.
Strukturelle lebenslange Potenzialentfaltung
Im Norden hingegen ging man davon aus, dass Menschen, die in der Lage sein müssen, mit einer aufstrebenden Industriegesellschaft umzugehen, ein komplexeres Innenleben benötigen würden. Das war im 19. Jahrhundert so und gilt in der heutigen digitalisierten Zeit mehr als je zuvor. Man setzte deshalb alles daran, lebenslanges Lernen zu einem Teil des natürlichen Gefüges der Gesellschaft zu machen. Und das macht die skandinavischen Länder heute so erfolgreich.
Wer lifelong lernt, bleibt elastisch im Hirn
Die Hirnforschung hat gezeigt, dass unser Gehirn mit einem enormen Potenzial an ungenutzten neuronalen Verknüpfungsmöglichkeiten ausgerüstet ist. Und wann immer wir etwas lernen, verknüpfen wir uns neu und erweitern unser Handlungspotenzial. Wir sehen mehr Möglichkeiten, weil wir schon mehr Wege gegangen sind als nur den einen. Die enorme skandinavische Offenheit und Flexibilität sowie der Mut zu Neuem mag darauf zurückzuführen sein. Diese Elastizität des Gehirns erstreckt sich wohl auch auf Herz, Geist und unsere Seele. Und dieses Dreigespann bildet sich auch am Wickeltisch. Der Mensch (m/w/d) reift schließlich nicht, wenn er immer nur dasselbe tut. Und kein Lebensereignis ist ergreifender als die Geburt eines Kindes. Und so herrscht in Skandinavien die Überzeugung, dass Personen, die Eltern werden, auch in ihrer Führungsrolle oder als Mitarbeiter reifen.
„Und wir möchten, dass du entscheidest, was das bedeutet.“
So die Anzeige des aufmüpfigen Finanzdienstleisters Klarna weiter. Dänemark und Schweden investieren europaweit nicht nur am meisten in die Schulbildung, sondern vor allem in das lifelong learning seiner Bürger: Volkshochschulen, Studienkreise, kulturelle Events … Die Auswahl an staatlich geförderten meist kostenlosen Programmen ist immens. Eine Million Schweden nutzt diese Angebote jährlich, 10 Prozent der Bevölkerung.
Das Besondere daran: Du darfst entscheiden, was das bedeutet. 1880 wie heute werden Kurse und Studienkreise weitestgehend an die Bedürfnisse der Teilnehmer angepasst. Sie bestimmen, was und wie sie lernen. Und nicht die Tradition. Man kommt zusammen, um voneinander und miteinander zu lernen. Schwedisch z.B. in den Sprach-Cafés der örtlichen Bibliotheken. Dort treffe auch ich mich einmal in der Woche mit Neubürgern zum Tratsch und beteilige mich somit am Wissenstransfer von schwedischen Werten. Die Teilnehmer bauen ihr eigenes Wissen auf – durch Dialog, Interaktion und Reflexion mit anderen.
Mach ABBA!
Und sehr oft auch in Zusammenspiel mit anderen. Wenn sich zum Beispiel in Lund zwei 17-Jährige dazu entschließen, eine Band zu gründen, dann klopfen sie bei einer staatlichen Bildungsinstitution an, die dann sagt: „Okay, was benötigt ihr? Einen Raum zum Üben? Einen Coach? Regeln wir.“ Vielleicht deshalb wird die moderne Popmusik so sehr von schwedischen Songwritern und Sängern beeinflusst. Hinter vielen Liedern führender Topkünstler wie z.B. Katy Perry, Britney Spears, Taylor Swift, Pink, Usher, Backstreet Boys, N’Sync, Maroon 5, Lady Gaga, Nicki Minaj, One Direction och Pittbull, stecken Schweden.
Auch Unternehmen müssen lifelong lernen
Okay, was um Himmels willen hat das in der Kategorie Führung und Management zu suchen? Auch ein Unternehmen muss sich ständig bilden, lebenslang lernen. Und das tut es, wenn die Menschen, die diese Unternehmen besiedeln ihren Geist erweitern, sich selbst weiterbilden und voneinander lernen können und dürfen. Menschen übernehmen so Verantwortung für sich und für andere. Wie mir Björn ein Mitarbeiter Team Endmontage bei Scania, dem schwedischen Lastwagenhersteller erklärt: „Wenn ich in etwas gut bin, dann gebe ich damit nicht an. Ich helfe dir lieber, so gut zu werden wie ich.“ Räuberleiter geben, Hand reichen, Wissen teilen ist Teil der skandinavischen Unternehmens-DNA. „Wissen ist Macht“ ist gänzlich unbekannt, denn Wissen muss fließen, damit wir alle besser werden können. Unternehmen, denen es heutzutage gelingt ihre Angst vor Kontrollverlust zu überwinden und Mitarbeitern quer durch das Unternehmen die Möglichkeit zu bieten voneinander zu lernen, entwickeln sich automatisch und eigendynamisch. Vorgegebene Strukturen stören da nur.
Der Kaffeeautomat ist der ideale Bildungsort
Eine schwedische Studie hat gezeigt, dass der wahre Wissenstransfer Unternehmen genau dort stattfindet. „Fika“ nennt man in Schweden die gesetzlich vorgeschriebene, bezahlte 20-minütige Kaffeepause, bei der sich das ganze Unternehmen hierarchieübergreifend trifft. Hier fühlen Menschen sich frei zu sagen, was sie denken. Und wenn es nur privat ist, so ist das persönliche Treffen außerhalb einer Rolle der Anfang für Verständigung. Auch die zahlreichen sozialen, kulturellen oder sportlichen Events, die skandinavische Unternehmen ihren Mitarbeitern gerne auch während der Arbeitszeit ermöglichen fördern diese offene, vertrauensvolle Atmosphäre, in der Menschen bereit sind, Wissen zu teilen und voneinander zu lernen. Das Unternehmen bildet sich quasi von innen heraus.
Wo liegt das Problem?
Wenn ihr euch das nordische Bildungsmodell ansehen, dann stellt ihr fest, dass unser Problem in Deutschland nicht darin besteht, dass wir keine Menschen mit den richtigen beruflichen Fähigkeiten ausbilden. Das Problem ist, dass wir ihnen nicht zustehen, sich als vollständige Menschen selbst zu bilden. Im Kontext mit anderen.
Was können wir also von den Wikingern lernen? Ich bin überzeugt, dass Gesellschaften wie die deutsche sich von der Mentalität der Skandinavier etwas abschauen können. Würde man das in drei Handlungsaufforderungen gießen, dann würden diese so lauten:
- Wo immer möglich entfache Diskussionen durch Fragen, Öffnung und Transparenz. Mache Reflexion möglich und Austausch. Lasst die Leute selber mit Ideen kommen.
- Zeigt unsinnigen Traditionen den Finger. Öffnet Strukturen, Abteilungen, Hierarchieebene, Kompetenzbereiche und Zuständigkeiten. Schafft zentrale physische Treffpunkte der persönlichen Wissensübertragung.
- Folgt den Interessen eurer Mitarbeiter.
Was meint ihr? Wie können wir Bildung sexy machen und vor allem lebenslang?
Ich freue mich hier oben in diesem Kaltland wie immer auf heiße Diskussionen.
Hejdå och hälsinar från Stockholm!
Es gibt drei Möglichkeiten des Lernens am Vorbild. Als Kinder hörten wir immer, wir sollten aus den eigenen Fehlern lernen. Das war die Geschichte mit der Herdplatte und man war sein eigenes Vorbild. Heulend und mit schmerzerfülltem Blick. Da musste die Haut erst in Fetzen hängen für ein nachhaltiges Lernerlebnis. Deutlich weniger schmerzvoll ist es, wenn man aus den Fehlern derer mit Brandblasen auf den Händen lernt. Man orientiert sich nach unten und fühlt sich wohl, dass es andere noch ungeschickter machten, als man selbst. Die Lösung des Problems musste man immer noch selbst finden. Und beim nächsten Versuch hing schon wieder die eigene Haut in Fetzen. Interessanterweise ist die einfachste Lösung die mental schmerzvollste: Von den Erfolgen anderer zu lernen verlangt zuerst einmal die Erkenntnis, dass es andere besser machen und das neidlose Akzeptieren, dass denen nicht die Flossen brennen. Und vor allem sollte man nicht seine wertvolle Zeit damit verbringen, verzweifelt nach Gründen zu suchen, warum das, was woanders so gut funktioniert, für einen selbst nicht hinhauen kann…
Ich lasse mich gerne inspirieren und erkenne neidlos an, wenn jemand etwas besser im Griff hat, als ich. Lernen am Erfolg! Danke!
Lieber Jürgen, was für eine fantastische Bildsprache du angewendet hast. Das Schöne an dieser Geschichte ist ja, dass wir im Prinzip nur unsere eigenen Ideen all der deutschen Denker und Dichter wieder aufleben lassen könnten. Dann wäre die Sache geritzt und würden sich auch die Prioritäten von selbst verschieben.
Liebe Maike,
ich glaube, dass wir Deutschen dafür erst einmal lernen dürfen, die Existenz von Fehlern zuzugeben und auszuhalten. Die Deutschen sind bekannt dafür, dass sie „alles“ perfekt machen. Wenn ich Fragen stelle, wenn ich meine Führungskraft hinterfrage, wenn ich immer wieder Neues lerne (was ich noch nicht kann), dann birgt dies die Gefahr, dass ständig Fehler passieren.
Sind die Deutschen schon bereit, dies auszuhalten?
Lieben Gruß aus Kiel
Isabel
Dank dir für deinen Input Isabel. Ich glaube momentan sehen wir: Ja, sie sind bereit, das auszuhalten. Frei nach Kant: Ich kann, weil ich will, was ich jetzt (in der Krise) muss. Grüße zurück aus Stockholm!