Weltfrauentag – Lasst uns disruptiv gendern!
Skandinavien zeigt, wo es hingeht. Lasst uns nicht einfach hinterher wackeln! Dafür fehlt uns die Zeit. Lasst uns aus der nordischen Zukunft auf die Gegenwart schauen und sie als Ausgangspunkt für unser Handeln und Fühlen nehmen! Lasst uns disruptiv gendern!
Ich habe mich die letzten Wochen oft über Posts der weiblichen Seite der Gesellschaft gewundert:
„Es klappt, man kann sehr wohl Familie und Karriere vereinbaren.“ „Ich bin meinem Arbeitgeber dankbar, dass wir eine Doppelspitze führen können. So werden Beruf und Familie vereinbar!“ und Ähnliches war zu lesen. Begeisterte Bestätigungen und Ermutigungen von Frauen in vergleichbaren „Situationen“ folgten. Wenige Männer. Klar. Denn um die geht es ja hier nicht.
Bitte?
Wikinger wie Schildmaid hätten bei diesen Zitaten wahrscheinlich erst einmal erstaunt die Augenbrauen hochgezogen. Warum postet man denn so etwas? Um dann, auf Nachfrage, noch mal nachzuschauen zu müssen, ob das jetzt ein Mann oder eine Frau gepostet hat. Bei uns ist das klar: Das war eine Frau.
Unsere Sozialisation prägt unsere Denkspur
Bis 1971 mussten Ehefrauen in Deutschland ihren Mann um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollten. Nach und nach war ein Halbtagsjob drin, dann wurde auf Vollzeit umgesattelt. Arbeit war mit Familie zu vereinen, jetzt Karriere und Kind. Parallel gab es Männer, die Elternzeit auf Bali nahmen, danach ohne Bali, einen Monat, jetzt schon mal drei …
Und auf den Schienen rollen wir – auch mental – weiter in die Zukunft. Was aber, wenn wir mit einem beherzten Satz aus der (Denk)Spur sprängen und uns die ganze Sache mal aus einer möglichen anderen Perspektive betrachteten? Also nicht, was der nächste Folgeschritt wäre, sondern was wäre der Idealzustand? Was müssen wir tun, um diesen herzustellen unabhängig davon, wo wir uns momentan befinden?
Weltfrauentag? Wir befinden uns im Hinterfeld
Die fünf Länder des Nordens haben vor 50 Jahren aktiv damit angefangen, Frauen ins Arbeitsleben zu integrieren.
Und heute beschwert sich mein schwedischer Nachbar während unserer gemeinsamen Gartenarbeit darüber, dass er leider schon einen Kitaplatz bekommen habe und dass ihm statt SEINER acht Monate Papazeit jetzt nur sechs Monate blieben. Das inzwischen übliche nordische Gerangel um die Elternzeit.
Gut. Wir können jetzt den Weg gehen, den der Norden vor 50 Jahren begann und uns freuen, wenn erfolgreiche Frauen posten, dass sie das mit der Karriere „schaffen“.
Fühlt sich das jetzt wirklich modern an? Fortschrittlich? Land-der-Ideen-mäßig kreativ, disruptiv, ganz vorne mit dabei? In Deutschland hinken wir gefühlt 20 Jahre hinterher. Aber haben wir Zeit, den gleichen Weg zu gehen?
Schweden hat die höchste Beschäftigungsquote von Frauen in ganz Europa, trotzdem gibt es auch hier den Gender-Pay-Gap. Allerdings bedeutend geringer als bei uns. Viele Arbeitgeber füllen die 80 Prozent Elterngeld auf 100 Prozent auf, um zu verhindern, dass diejenigen, die mehr verdienen, weiterarbeiten. 30 Prozent aller Elterntage werden von Männern genommen.
Das Ehegattensplitting wurde bereits 1960 mit heftigen Debatten der diversen Volksbewegungen, Politik und Öffentlichkeit als Frauenfalle abgeschafft, die Kinderbetreuung umfassend und vor allem qualitativ ausgebaut. Halbtagsjob oder gar Minijobs kann man in Schweden mit der Lupe suchen, denn auch sie gelten als Frauenfalle.
Die schwedische Regierung bezeichnet sich seit 2014 als feministisch und mit der neuen Regierungschefin Magdalena Andersson hat jetzt der gesamte Norden inklusive Finnland und Island zumindest bei der politischen Machtverteilung Gender-Equality erreicht.
Also los! Land, hab‘ Ideen!
Denn inzwischen wächst der Druck. Dazu benötigen wir keinen Weltfrauentag. Immer mehr Unternehmen beschweren sich über mangelndes Personal, vor allem im IT-Bereich. Die Liste muss ich Ihnen nicht herunterbeten. Die kennen Sie selbst.
Nur, um sein Personal zu halten und zu bekommen, dafür muss man halt auch etwas tun. Und zwar nicht das, was alle tun. Denn die Menschen, die ihr sucht, sind schon da. Wir haben sie nur gesellschaftlich noch nicht von der Leine gelassen. Was für eine unglaubliche Chance für Unternehmen, sich dieser Menschen anzunehmen!
Diversity hat nichts mit Gendern zu tun
Es geht in der Zukunft nicht darum, nur mehr Frauen in Führungspositionen zu bekommen, sondern mehr Menschen. Und mehr Menschlichkeit. Die kommt dort zum Vorschein, wo vollständige Menschen sich mit all den Facetten ihres Lebens und ihren persönlichen Erfahrungen einbringen dürfen und sollen. Frau, wie Mann. Nur so werden sie einen wertvollen und einzigartigen Beitrag leisten.
Diverse Teams arbeiten besser, weil sie unterschiedliche Perspektiven vereinen und bessere, auch profitablere Entscheidungen treffen. Das ist nicht neu. Das haben wir schon erkannt. Denn wir benötigen unterschiedliche Menschen, um eine stets komplexer werdende Welt zu meistern. Wir benötigen das Beste von allen für alle! All hands on deck.
Das Beste lassen die meisten allerdings zu Hause: ihre Empathie, ihre Ausgeflipptheit, ihre Lebendigkeit, ihre persönlichen Geschichten und ihren Schmerz. Darüber hinaus auch ihr Leben. Das Leben, an dem sie täglich wachsen und an dem wir als Kollegen:innen und Unternehmen mitwachsen könnten, wenn wir davon wüssten.
Weltfrauentag? Ach du liebe Zeit!
Sich damit zu beschäftigen, kostet Zeit, Aufmerksamkeit und Geld. Und es sollte teuer sein! Dem Unternehmen teuer sein, wenn Sie Kjetill fragen, Gründer eines der berühmtesten Architekturbüros der Welt, gelegen am Rande von Oslo.
„Elternzeit?«, fang ich das Gespräch an. »Das bedeutet doch, die Leute fangen hier an und schwups, da sind sie schwanger!« »Oh ja«, so Kjetil mit leuchtenden Augen. »Nicht nur einmal! Zweimal! Dreimal!« Das müsse doch eine enorme Menge Geld kosten. »Nun, wie ich bereits gesagt habe, wir sind nicht billig. Verkaufe das den Deutschen!«, fährt er lachend fort.
»Wir sind nicht billig, weil wir Elternzeit haben!«
Wieder ernst erklärt er mir, was das für ihn bedeutet: »Du bekommst einen Architekten, der weiß, was es bedeutet, ein Kind zu erziehen. Was bedeutet das, wenn wir eine Schule entwerfen oder einen Kindergarten? Lebensweisheit ist der größte Beitrag zur Architektur.« Ich habe verstanden: Leben ist ein Teil der Arbeit. »Oh ja« fährt Kjetil beinahe flüsternd fort. »Das ist sehr, sehr wichtig.“ (Auszug aus „Acht Stunden mehr Glück„)
LEBENSWEISHEIT IST WERTVOLL FÜR IHR UNTERNEHMEN
Nur wenn wir uns als vollständige Personen in unserer gesamten und doch charmanten Imperfektion entwickeln und zeigen dürfen, können wir uns entspannen und finden somit Zugang zu unserem vollen Potenzial, unserer Kreativität und zu Gedanken, die das Zeug haben können, einen echten Unterschied zu machen.
Dementsprechend ist „Sei du!“ der Kernwert des Nordens und der sorgt dafür, dass Menschen im Job viel glücklicher sind und somit doppelt so produktiv, lösungsorientierter, kreativer, besser in der Zusammenarbeit, nur ein Zehntel der Krankheitstage haben und auch ansonsten einfach gerne bei Ihnen bleiben.
Also machen Sie Ihre Werkstore ein wenig breiter, damit ganze Menschen durchpassen und nicht nur abgespeckte, angepasste und auf Stärken basierte Hälften von Menschen. Damit sich niemand mehr verbiegen muss und somit wertvolle Energie verliert, die dann auch den Unternehmen fehlt.
Das ist ungleich lästiger, denn dann fängt das Jonglieren an. Lauter einzigartige Menschen so miteinander zu verbinden, dass sie sich ergänzen! Doch es lohnt sich. Denn wenn alle spüren, dass sie in ihrer gesamten Unvollkommenheit ein wichtiger Teil des Teams sind, dann müssen sie sich nicht mehr in den Vordergrund bugsieren, taktisch Wissen horten und die Ellenbogen benutzen. Dann gehen Menschen gerne einen Schritt zur Seite um das Gesamte gelingen zu lassen. Und dazu benötigen wir eben auch ganz selbstverständlich Weiblichkeit. So wie alle anderen auch.
Was bedeutet das jetzt konkret?
Ich hätte da gesellschaftlich und politische einige unglaublich verwegene Ideen wie die Abschaffung des Minijobs und des Ehegattensplittings. Doch bleiben wir bei dem, was Sie tun können. Sofort. Jetzt. Wenn Sie das nächste Meeting starten.
1. Dare to care
Fragen Sie sich: Was kann ich tun, damit sich meine MitarbeiterInnen nicht verbiegen müssen, sondern ihr gesamtes Leben und alle ihre Ecken, Kanten und Verletzlichkeit mit auf die Arbeit bringen? Wie kann ich die psychologische Sicherheit bieten? Wie also Menschen in ihrem täglichen Leben unterstützen? Wie kann ich aktiv Nähe kreieren? Bieten Sie zum Beispiel bei anstehenden Scheidungen (von denen Ihr/e Mitarbeiter/In Ihnen hoffentlich erzählt hat) aktiv an, die Arbeitszeiten an das 50/50 Model anzupassen. Formen Sie die Arbeit um die Menschen. Der Dank und Einsatz wird unbezahlbar sein.
Nach meiner Scheidung hat mein Chef es immer so arrangiert, dass die anstrengenden Meetings in den Wochen geplant wurden, in denen ich die Kinder nicht hatte. Es herrscht hier totales Verständnis dafür, dass deine Familie ein riesiger Teil deines Lebens ist. Ich glaube, diese Kultur sorgt dafür, dass wir effizienter sind.
Marianne, Head of HR, Novozymes, Dänemark (Anmerkung: In Skandinavien wohnen die Kinder normalerweise nach der Trennung jede zweite Woche bei Mutter bzw. Vater)
2. Dare to cry
Ermutigen Sie sich und Ihre Führungskräfte, sich menschlich zu zeigen und über ihr Leben und ihre Gefühle zu sprechen. Schreibt das Leben dann auch gemeinsam so in den offenen Kalender. „Marianne (CEO) zu Hause, Katze krank“, „Frank, späte Woche /Kidsweek“. Und hej, es ist okay in einem Meeting zu weinen. Für alle.
Wenn du dich getraust, dich verletzlich zu zeigen, dann entstehen magische Dinge!
Cornelia, ehemalige People und Culture Managerin IKEA Sweden, jetzt Bahlsen Group
3. Dare to trust
Und falls Sie jetzt gedacht haben, „Ich bin hier kein Wellness-Center. Das nutzen die doch aus.“ So sei es. Denn so wird es sein. Verletzlichkeit und Anteilnahme benötigen Vertrauen. Und da bewahrheitet sich wissenschaftlich erwiesen selbst. Sprich, wenn Sie sich öffnen und verletzlich zeigen, wird Ihr Gegenüber dasselbe tun. Es liegt also an Ihnen die vielen ersten Schritte zu tun.
Ich gebe immer alles, denn mein Arbeitgeber, meine Kollegen, jeder hier vertraut mir. Und dann denke ich: Okay, sie vertrauen mir. Lass mich ihnen zeigen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben.
Visal, Verkehrsleiter Stockholms U-Bahn, MTR
Weltfrauentag! Sie haben die Wahl!
Lassen Sie uns in Zukunft gemeinsam rätseln, welches Geschlecht denn jetzt komischerweise einen Post über „Kinder und Karriere unter einen Hut bekommen“ geschrieben hat.
Es wird Zeit. Lasst uns Frauen und Männer und alle, die sich nicht entscheiden wollen die Möglichkeit geben, einen bedeutsamen Beitrag zu leisten. Gemeinsam. Miteinander. Füreinander.